Die Wege unserer Väter
- René Hope
- vor 6 Tagen
- 2 Min. Lesezeit

Es gibt Geschichten, die in unseren Adern weiterleben.
Geschichten, die nicht in Büchern stehen, sondern in der Stille zwischen den Generationen flüstern. Dies ist eine solche Geschichte – die unseres Vaters.
Mein Vater wurde in Ungarn geboren – in eine Welt, die noch überschaubar war.
Er stammte aus einer jener Familien, die einst mit Mut, Hoffnung und ein paar Habseligkeiten den Lauf der Donau hinunterzogen, auf der Suche nach einem Neuanfang.
Sie fanden ihr Zuhause in der Ferne, bewirtschafteten die Erde, zogen Reben, bauten Häuser und Gemeinschaften.
Sie waren Deutsche – und doch auch Ungarn.
Verwurzelt in zwei Welten, verbunden durch Arbeit, Glaube, Tradition und Musik.
Dann kam der Krieg.
Und mit ihm der Verlust.
Die Menschen, die Wurzeln geschlagen hatten, wurden entwurzelt.
Sie verloren ihre Heimat, ihre Felder, ihre Häuser.
Viele Männer verschwanden, so auch mein Vater.
Jahre russischer Gefangenschaft – ein Schatten, über den er kaum sprach – aber in seinen Augen lag manchmal dieses ferne Leuchten, das nur jemand trägt, der die Hölle gesehen hat und dennoch überlebt hat.
Erst neun Jahre später kehrte er zurück – älter, stiller, gezeichneter.
Aber er lebte. Er kämpfte. Und er machte weiter.
Das Schicksal stellte ihn erneut auf die Probe:
Er verlor seine erste Frau an den Krebs.
Und doch fand er später – vielleicht geführt – unsere Mutter,
die selbst vertrieben wurde, aus der heutigen Slowakei.
Zwei entwurzelte Seelen, getragen vom Wunsch, wieder Halt zu finden.
Sie trafen sich im Rheingau, dem Land der Reben,
und aus ihrer Begegnung wurde ein neues Zuhause.
Unser Vater war damals 49, als er noch einmal Vater wurde –
ein spätes Glück, das er mit stiller Hingabe trug.
Er sprach nie viel über Liebe,
aber sie zeigte sich in dem, was er tat:
in seiner Fürsorge für uns,
in den Schwielen seiner Hände,
im Haus, das er Stein für Stein errichtete,
in seinem Durchhaltewillen.
Er war kein Mann großer Worte,
aber er hatte ein großes Herz.
Er war Spediteur, Arbeiter, Visionär –
einer, der Verantwortung kannte und nie aufgab,
selbst dann nicht, als der Krebs ihn langsam aufzehrte.
Bis fast zuletzt fuhr er noch seine Touren,
pflichtbewusst, unbeugsam, stolz.
Sein Tod kam zu früh.
Für unsere Mutter war es, als wäre mit ihm ein Teil von ihr gegangen.
Wir, die nachfolgende Generation,
leben von der Stärke, die sie uns hinterließen.
Wir können uns kaum vorstellen, was sie ertragen mussten,
und doch leben wir in dem Frieden, den sie uns schenkten.
Vielleicht ist es das, was mich heute antreibt –
die Sehnsucht, das Unausgesprochene zu verstehen. Diese Sehnsucht, die Geschichte meiner Ahnen zu verstehen, die Wahrheit hinter all den Erzählungen zu finden.
Die Wege zurückzugehen, um meinen eigenen zu finden.
Und irgendwo – zwischen Vergangenheit und Gegenwart –
eine neue Heimat zu schaffen.
Ich danke dir, Vater.
Für deinen Mut, deine Opfer, deine Liebe.
Für deine Stärke.
Für deinen Glauben an das Leben.
Und für das Vermächtnis, das weiterlebt – in mir.
Du hast den Boden bereitet,
auf dem ich nun stehe,
und vielleicht gehe ich
nun den Weg zurück nach Ungarn,
um ihn neu zu beginnen - mein eigener Lebenshorizont.



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